Auf welche Weise willst du dasjenige suchen, wovon du ganz und garnicht weisst, was es ist?

In unserer Arbeit haben wir sehr oft mit Menschen zu tun, die von sich sagen, dass sie sich nicht gesehen, häufig überhört und oft nicht gemeint fühlen. Diese Erfahrungen gehen mir nah. Deshalb möchte ich einige Gedanken und Erfahrungen mit euch teilen.

Als ich ein Mädchen war, habe ich so oft Handstand gemacht, dass meine Eltern sich irgendwann fragten, ob etwas mit mir nicht ganz in Ordnung sei und mir etwas fehle. Egal wo und in welchen Situationen – ich stand ständig auf dem Kopf.  

Ich wurde älter und habe mich das erste Mal verliebt. Während einer Einladung der Eltern des Jungen bin ich abwechslungsweise raus auf den Flur gegangen, um mich an der Wand auf den Kopf zu stellen oder um wiederholt aufs Klo zu rennen. Die Gastgeber, mir von Herzen zugetan, waren mit der Zeit sichtlich irritiert, der junge Mann beunruhigt, aber auch amüsiert. Für mich erhöhte das den empfundenen Druck. 

Das Gefühl dahinter, das weiss ich heute, war, die Erwartung an mich nicht auszuhalten zu können. Die Nähe. Alle zusammen in einem fremden Raum an einem Tisch. Interessierte und erwartungsvolle Blicke auf mir. Das «sich auf den Kopf stellen müssen» wurde mit der Zeit beherrschbar für mich, aber mich zu versichern, wo die Toiletten und möglichen Notausgänge sind – das habe ich sehr lange beibehalten. Mir wurde erst sehr viel später klar, dass es Strategien waren, um mich entziehen zu können, eine Pause zu machen, in Kontakt zu mir zu kommen. Ich habe diese Verhaltensweisen später bei anderen zurückhaltenden Menschen kennen- und lieben gelernt. Sie sind vielfältig und manchmal auch sehr originell. 

Ich bin mir heute noch nicht sicher, ob jemand in meiner Ursprungs-Familie sieht, dass ich introvertiert bin. Es ist mit einer ganz speziellen Scham besetzt und ich wirke vermutlich oft anders. Ich selbst hatte auch lange überhaupt keine Worte dafür, was genau mich unter Druck setzte und woher das Unwohlsein kam, welches mich auch heute noch manchmal erfasst. Im Gegenteil, die Menschen um ich herum scheinen mich nicht selten für sehr offen und kontaktfreudig zu halten. Ich verhalte mich auch so. Ich hatte verinnerlicht, dass offen und kontaktfreudig zu sein attraktiver ist, und familiär und gesellschaftlich erwünscht.  

Ich habe mir einen Charakter angezogen, wie eine Rolle, die ich lernte zu spielen und zu wechseln, auszuprobieren und zu perfektionieren, weil ich merkte, wie attraktiv das für andere war. Und weil ich den Eindruck hatte, dass man mich lieber mochte, wenn ich unkomplizierter war. Es gab mir die Möglichkeit, dahinter zu verschwinden. Tief in mir drin hatte ich schon ganz früh das Gefühl, dass etwas nicht richtig war, so wie ich war. Trotz meiner Faszination für Extrovertierte spürte ich schon damals, dass stille Menschen mich anzogen und mir gleichermassen Angst machten, weil sie mich spiegelten. Ich konnte noch nicht zu mir stehen, so wenig, dass mich das Gegenteil beeindruckte und ich so sein wollte: witzig und laut, schlagfertig und selbstsicher. 

Ich vertraute damals noch nicht meiner Intuition, dass introvertierte Menschen genau so richtig sind, wie sie sind. Ich verleugnete mich und sie über Jahre hinweg. Entgegen der Annahme, dass Menschen mit ausgeprägten introvertierten Anteilen nicht die Öffentlichkeit suchen, bin ich Schauspielerin geworden. Denn ganz entgegen dem Klischee und Vorurteil, welches sich darüber in vielen Köpfen festgesetzt hat, gibt es viele introvertierte Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen. Sie suchen oft aus einem starken Grund heraus die Öffentlichkeit. In meinem Fall: Ich – eine andere – die Faszination über die verschiedenen persönlichen Anteile meiner selbst, denen ich in Rollen begegnen konnte. 

Bei einer meiner ersten grossen Rollen am Theater wurde ich krank und konnte über eine längere Zeit nicht mehr auftreten. Nach einigen Jahren habe ich erkannt, dass ich der Bühne nicht länger Stand halten konnte, schlicht, weil es mich zu viel Energie kostet, zu oft zu viel Aufmerksamkeit zu erzeugen.

Woher kommen überhaupt die beiden Begriffe Introversion und Extroversion?  

Geprägt wurden die beiden Begriffe von dem Psychoanalytiker Carl Gustav Jung. In seinem Werk «psychologische Typen» definierte er 1921 Introversion und Extroversion als Merkmale, die eine Persönlichkeit wesentlich prägen. 

Dabei bezeichnete er die zwei entgegengesetzten Pole einer Persönlichkeit, die durch unterschiedliche Interaktionen mit der sozialen Umwelt charakterisiert werden. Den Begriffen nach bezeichnet Introversion eine nach innen gewandte Haltung, während Extroversion eine nach außen gewandte Haltung beschreibt. 

Als«extrovertiert» bezeichnete er einen Menschen, dessen Verhalten auf die äussere, objektive Welt ausgerichtet und von ihr geleitet wird.IntrovertierteMenschen sind der Definition nach dagegen auf ihre innere, subjektive Welt ausgerichtet und verhalten sich entsprechend.   

Dass diese Kategorien nur zwei von sehr vielen Möglichkeiten sind, unter welchen Aspekten man sich Menschen anschauen kann, muss uns hier natürlich klar sein. Menschen darauf zu begrenzen wäre eine unrechtmässige Einschränkung von Komplexität und trotzdem scheint sich Jungs Unterscheidung in fast allen Persönlichkeitstypologien wiederzufinden. 

Fast jeder kann sich unter diesen Begriffen etwas vorstellen und verbindet bestimmte Eigenschaften mit ihnen. Beim genaueren Hinsehen – sei es im wirklichen Leben oder in der Literatur- wird die Abgrenzung jedoch schnell unscharf.  

Es gibt beide Erscheinungsformen und in der Bestimmung natürlich grosse Bewegungsspielräume. 

Wir werden mit einer Tendenz zur Intro- oder Extroversion geboren, somit auch mit bestimmten Merkmalen, Bedürfnissen und Vorlieben, die uns schon als Kind prägen. Intro- und Extroversion lassen sich viel besser verstehen, wenn man sie nicht als Gegensätze ansieht, sondern als die äusseren Punkte eines Kontinuums: Jeder Mensch hat beide Anteile und wird in einen Bewegungsspielraum hinein geboren.  

Die meisten Menschen befinden sich in einem gemässigteren Bereich, allerdings mit Tendenzen in die eine oder andere Richtung. Alle Bandbreiten kommen vor, die äusseren Extreme können in der Kompatibilität Probleme bereiten.  

Wenn sich ein introvertierter Mensch zu häufig in einer Umgebung befindet, die ihm oder ihr ganz grundsätzlich nicht entspricht, dann kostet ihn das unglaublich viel Energie, kann beeinträchtigend sein und sogar krank machen. Für einen extrovertierten Menschen gilt umgekehrt das Gleiche. Extrovertierte Menschen brauchen die Stimulation, weil sie ihnen Energie liefert. Sie suchen häufig nach Abwechslung, wenn sie auf sich allein zurückgeworfen sind und zu wenig neue und inspirierende Eindrücke bekommen. Das bedeutet aber nicht, dass Menschen dieser Ausprägung nicht auch Rückzugsbedarf haben und stillere Momente suchen. 

Zurückhaltende Menschen sind jedoch auf Zeit mit sich allein angewiesen, um sich nach Belastungen und sozialen Begegnungen regenerieren zu können. Ohne genügend Ruhe werden sie reizbar und erschöpft. Das gilt sowohl für jüngere als auch ältere Menschen. Dafür habe ich hier meiner Wahrnehmung nach ein sehr anschauliches Bild von Sylvia Löhken, die sich vertieft mit dem Thema auseinandersetzt und auch ein Buch dazu veröffentlicht hat: 

Ein extrovertierter Mensch erzeugt seine Energie wie ein Windrad – er braucht erstens Impulse von aussen, um sie herzustellen, und zweitens muss er in diesem Prozess selbst in Aktion sein und sich dynamisch «drehen». Ein Intro dagegen ist wie ein Akku: Er lädt sich im Ruhezustand ohne jeden «Wind von Außen» auf und verzichtet in dieser Phase am liebsten auf Aktivitäten. Introvertierte Menschen brauchen als «Akkus» dabei mehr Zeit, bis sie ihre Energie zurückhaben.

Obwohl es uns alle betrifft, hat unsere Gesellschaft noch zu wenig Bewusstsein über dieses Thema. Die Klassenzimmer unserer Kinder und Enkelkinder sind noch nicht darauf ausgerichtet, genauso wenig wie sehr viele Arbeitsumfelder, ganz zu schweigen vom gesellschaftlichen Diskurs.

Der öffentliche Raum ist häufig so konzipiert, dass Leute sich wenig zurückziehen können und kaum Nischen entstehen, die zum allein sein und pausieren einladen.

Man denke hier unter anderem an Grossraumbüros, an Klassen- und Unterrichtsräume, Plätze auf dem Campus, Pausenhöfe, LehrerInnenzimmer, Einkaufspassagen, öffentliche Plätze, Parks und Grünflächen – die Liste lässt sich fast beliebig verlängern. 

Caroline Criado – Perez schreibt in ihrem 2020 erschienenen Bestseller «Unsichtbare Frauen», dass Mädchen und Frauen gern öffentliche Orte hätten, die in kleinere Bereiche, Nischen und Unterräume eingeteilt sind, um unter sich sein zu können. Und auch, damit sie nicht um den Raum mit Jungen und Männern konkurrieren müssen.

Man stelle sich Schulen und Hochschulen vor, die «Stille Räume» anbieten, ganz selbstverständlich, so, wie die öffentlichen Räume auch. Räume, die dazu einladen, für sich zu sein. Nicht um zu lernen, sondern um zu sein, um Eindrücke und Informationen, Begegnungen und Emotionen verarbeiten zu können. 

Rachel Cannon, Innendesignerin und bekennende Introvertierte schreibt: «Ich denke, jedes zuhause sollte einen «Stille Raum» haben, wo die Leute wie ich sich zurückziehen können, um den Tag zu verarbeiten, die Batterien aufzuladen und von der Anstrengung zu genesen von einer Welt des Funktionierens, die für Extrovertierte entworfen wurde, um darin erfolgreich zu sein.» Ein privilegierter Wunsch, Zweifels ohne, meiner Wahrnehmung nach jedoch ein sehr guter Denkanstoss. 

Wir plädieren dafür, Möglichkeitsräume zu eröffnen, in denen wir uns in unserer Unterschiedlichkeit zeigen, respektieren, annähern, verstehen und ergänzen können. 

Je mehr Raum entsteht, in dem zurückhaltendere Menschen ganz selbstverständlich sie selbst sein können, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie ungewöhnliche und originelle Lösungen zur Verfügung stellen. Denn die Talente, die Introvertierte in sich tragen, sind eine unterschätzte und oft ungenutzte Kraft, eine Verschwendung von Potenzialen, die den Individuen und der Gesellschaft entgehen. Wir sollten uns gegenseitig einladen, uns auf den Weg zu machen, um uns zuzuhören und uns einander zuzuwenden. Um Lösungen zu finden, die dem Ideal, dass wir alle möglichst schnell denkende, sich laut und vernehmlich einbringende, charismatische und risikofreudige Menschen sein sollten, die grossen Qualitäten der Introversion entgegenzusetzen. Mit dem Ziel, uns in unseren Fähigkeiten und Qualitäten respektvoll ergänzen zu können. 

Um in einer Zeit, in der einem rohen, lauten und undifferenzierten Verhalten und den entsprechenden Meinungsäusserungen zu viel Raum eingeräumt wird, gemeinsam zu versuchen die Welt mit Sanftmut zu erschüttern.